"Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft." - Wilhelm von Humboldt
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Sonntag, 28. Juni 2020

Belarus - Eine virtuelle Reise nach Korma

Eigentlich käme ich heute aus Belarus zurück. Mit meiner Tochter wäre ich durch Belarus gereist, das wichtigste Ziel wäre das Dorf Korma gewesen. Korma liegt westlich der Landstraße P31 bei Dubrova, zwischen Paritschi und Osaritschi. Und südöstlich der Hauptstadt Minsk.
Bei Korma verliert sich am 25. Juni 1944 die Spur meines Großvaters Rudolf. Die Rote Armee begann am 23. Juni 1944 die "Operation Bagration". Innerhalb kürzester Zeit wurde die Heeresgruppe Mitte zurückgedrängt, teilweise eingekesselt. Die "Operation Bagration" kennt kaum jemand. Doch sie bescherte den Deutschen die größte militärische Niederlage aller Zeiten. Eine halbe Million deutscher Soldaten starben und die komplette Heeresgruppe Mitte hörte praktisch auf zu existieren.
Die Soldaten der 129. Infanterie-Division, die der Heeresgruppe Mitte angehörte, flohen westwärts. Mein Großvater Rudolf K. hatte eine Verletzung an der Hand, wollte trotz Warnungen seiner Kameraden an den Verbandsplatz zurück, dann rollten die Panzer der Roten Armee auf ihn zu....  Seine sterblichen Überreste wurden bis heute nicht geborgen. Sein Kriegskamerad Xaver B. hat meiner Großmutter über den letzten Tag ihres Ehemannes berichtet.
Vermisst ist ein Wort ohne Schlusspunkt. Von meinem Großvater gab es kein Lebenszeichen. Keine Erkennungsmarke zeigte sich irgendwo im Schlamm, keine Uniformfetzen, keine Knochen für ein Grab. Der Großvater wurde zum Geist, lebte nicht, starb nicht. Das Gefühl, er könnte plötzlich vor der Türe stehen bleibt.

In Witebsk hätten wir das Geburtshaus von Marc Chagall besucht, hätten die Städte Orscha und Mogilev besichtigt, vielleicht in einem der vielen Seen oder der Beresina geschwommen, hätten die Rollbahn (heute Autobahn M1) überquert. Wir hätten mit Weißrussinnen und -russen gesprochen die den Krieg und die Schikanen der Deutschen Wehrmacht er- und überlebt haben. 
In Minsk hätten wir das Staatliche Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges besucht und wären in der Stalin Line mit einem russischen Panzer gefahren. Doch zuvor wären wir mit Sommerblumen auf den Deutschen Soldatenfriedhof Schatkowo bei Bobruisk. Dort ist der Name meines Großvaters im Gedenkbuch eingetragen. Besucht hätten wir auch die allgegenwärtigen weißrussischen Kriegsdenkmäler und die Gedenkstätte Chatyn. Sie erinnert an die über 600 'verbrannten Dörfer'. die mitsamt ihren Einwohnern im nationalsozialistischen Genozid und durch die NS-Politik der 'verbrannten Erde' in Weißrussland seit Beginn des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden. 

Der Großvater beschäftigte mich immer wieder. Als Kind wusste ich nicht was "vermisst" bedeutet. Vermisstes wird oft wiedergefunden, ob er doch eines Tages vor der Türe steht? Ich kenne ihn nur von einem Soldatenfoto in schwarz-weiss aus dem Wohnzimmer meiner Großmutter. Sie hat seine Feldpostbriefe immer wieder gelesen und am Ende ihres Lebens die Briefe verbrannt. Was ihn an der russischen Front beschäftigt hat und was er seiner Familie mitgeteilt hat, ging in Flammen auf.


Memorial Operation Bagration

In Korma hätte ich ihm diese Woche so nah sein können. Neben dem Denkmal wollten wir auf eine Wiese liegen, in die Wolken am weißrussischen Himmel schauen, vielleicht hätten wir ihn sagen hören: Da seid ihr endlich, ich habe lange auf euch gewartet! Meine Sucher-Seele hätte dort ihren Frieden gefunden. - Mehr hätte ich für meinen Großvater nicht tun können.
Die drei Kinder meines Großvaters verpassten die Chance nach Belarus zu reisen. Mit unserer geplanten Reise, die leider durch Corona verhindert wurde, sind wir auf dem richtigen Weg. Die Enkelgeneration will - im Gegensatz zur Generation der Kriegskinder - Licht in die dunkle Vergangenheit bringen. Und letztendlich hat das Schicksal meines Großvaters mein Leben erst ermöglicht. Wäre er nach Hause gekommen, wären sich meine Eltern nie begegnet.


.  M  .

Dienstag, 17. März 2020

Autoatlas & Feldpostbriefe aus Belarus

Während ich im neuen kyrillischen Autoatlas theoretisch durch Belarus reise wird die praktische Reise bereits in Frage gestellt. Das Corona-Virus hat die Welt halb lahm gelegt. Keine Reisen ins Ausland, Grenzübergänge sind geschlossen, so gut wie alle Vergnügungen gestrichen, die Öffnungszeiten der Gaststätten sind zeitlich begrenzt, Kindergärten und Schulen sind geschlossen, Hamsterkäufe in den Supermärkten. Zum ersten Mal in 60 Jahren stehe ich vor geplünderten fast leeren Regalen. Frankreich hat bereits eine Ausgangssperre verhängt und wir müssen damit rechnen, dass unsere Regierung weitere Einschränkungen anordnet. Wie lange das Virus unser Leben drastisch einschränkt steht in den Sternen. Die Reise nach Belarus ist im  Terminkalender gestrichen. Aber es gibt Schlimmeres als Reisepläne zu verschieben!



Die Spurensuche aber geht weiter. Mein Großvater hat aus Weißrussland auch Briefe an seinen Bruder geschrieben. Und diese Briefe schlummern seit 76 Jahren in Steinheim vor sich hin. Mit keinem Wort wurden diese Feldpostbriefe jemals erwähnt. Meine Mutter erzählte ihrer Cousine von meiner geplanten Reise nach Belarus. Und die Cousine sagte so ganz nebenbei, dass sie diese Feldpostbriefe aufbewahrt. Es grenzt fast an ein Wunder. - Ich weiß noch nicht wie viele Briefe es sind. Da das Leben außer Haus momentan eingeschränkt ist, bleibt jetzt viel Zeit für die Transkription der Feldpostbriefe.


.  M  .