"Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft." - Wilhelm von Humboldt

Samstag, 11. Juli 2020

Fahr mal hin - Eberbach am Neckar

Wir bleiben wegen den Corona-Reise-Einschränkungen diesen Sommer im Ländle und erkunden unser Bundesland Baden-Württemberg. Genießen unterwegs die ess- und trinkbaren "Schätze" unseres Landes. Mit Registrierung und "gesetzlichem" Abstand zu andern Gästen löscht ein kühles Bier oder ein Gläschen Wein in einer Gartenwirtschaft den Durst.


Kenner trinken Württemberger
Samtrot Rosé, ein "Schätzchen" von den Hessigheimer Felsengärten

Die Sommertour begann bereits in Eberbach am Neckar. Das Städtchen wurde mit seiner Viktoria-
Torte weltberühmt. Anno 1958 rollte die Begum Aga Khan im Rolls Royce am Neckar entlang zum
damaligen Kurhaus. Sie schrieb sich auch in das Goldene Buch ein. Die dreifache Olympiasiegerin im Skirennlauf, Katja Seizinger, ist in Eberbach aufgewachsen.



Café Victoria in Eberbach

In den vergangenen Jahrhunderten verließen viele Eberbacher ihre Heimat und wanderten nach Nordamerika aus. Der berühmteste Auswanderer ist der Bäckermeister Konrad Beisel, dessen Familie heute noch eine Bäckerei mit Blick auf den Neckar betreibt.
Conrad Beissel, wie er sich später nannte, wanderte 1720 nach Pennsylvania aus und gründete im gelobten Land der religiösen Toleranz das Kloster Ephrata. Auf der History-Seite von Eberbach finde ich zu meiner Überraschung den Enkel meines 9-fachen Urgroßvaters Jacob Weiser (*um 1625), Schultheiß in Großaspach:
"Der Württemberger Conrad Weiser (1696-1760) kam schon als Jugendlicher nach Pennsylvania und wuchs eine Zeit lang beim Stamm der Mohawk aus dem Volk der Irokesen auf. Später war er Farmer, Soldat, Dolmetscher und geschätzter Diplomat in indianischen Angelegenheiten. In den Jahren 1735 bis 1743 lebte er als Bruder Enoch unter den Hausleuten in Ephrata."

Eberbacher Auswanderer gründeten zur Zeit des Eisenbahnbaus die Stadt Hebron in North Dakota. Sie warben in ihrer Heimat erfolgreich für das 'gelobte Land' an der kanadischen Grenze. Es folgten u.a. die Familien Krauth und Conrath.


der Eberbacher Eber auf dem Brotlaib der Bäckerei Beisel

Die Krauths und die Conraths waren der eigentliche Anlass nach Eberbach zu fahren und dort das Stadtarchiv zu besuchen. Der Uhrmacher Leonhard Krauth (1805 Eberbach - 1880 Sindelfingen) wird mich weiterhin beschäftigen. Zeitgleich macht sich ein Schriftsteller aus New York mit der Familie Conrath ans Werk. Für das Geschichtsblatt 2021 der Stadt Eberbach werden wir zwei Beiträge über die Familie Leonhard Krauth und über den Künstler Ted Conrath und seine Vorfahren schreiben. 


.  M  .


Dienstag, 7. Juli 2020

Diese Zelle ist ein Loch - Lina Haag

Auf meinem Weg vom Hauptstaatsarchiv Stuttgart ins Dorotheenquartier komme ich am Hotel Silber vorbei, das ganz knapp dem Abriss zugunsten eines Einkaufs- und Wohnviertels im Herzen der Stadt Stuttgart entgangen ist.
Ich habe die ehemalige Gestapo-Zentrale bereits nach der Eröffnung im Dezember 2018 besucht. Meine Schritte werden auch heute wieder langsamer je näher ich dem Eingang komme. Ich stemme die schwere Türe auf, gehe schnurstracks durch das Entrée, den langen Flur Richtung Treppenhaus entlang und hinunter in den Keller. Auch heute bin ich wieder alleine im Kellergeschoss, wo einst Festgenommene auf das Verhör durch die Geheime Staatspolizei gewartet haben.



ehemalige Verwahrzellen im Keller des Hotel Silber





diese Zeilen sind von Lina Haag, entnommen aus ihrem Buch
Eine Hand voll Staub - Widerstand einer Frau 1933 - 1945

Ihr Buch zeugt vom Widerstandswillen einer Einzelnen und ist aber auch eine Liebesgeschichte ganz eigener Art. In Form eines Briefes hat Lina Haag 1944 ihre Erinnerungen an die Zeit ab 1933 festgehalten. Es ist die Lebensgeschichte einer mutigen Frau, Kommunistin und verheiratet mit dem Journalisten Alfred Haag (1904-1982), der 1930 als jüngster KPD-Abgeordneter in den Stuttgarter Landtag gewählt worden war. 1933 wurde Alfred Haag von den Nationalsozialisten verhaftet. Aus dem KZ Oberer Kuhberg bei Ulm kam er 1935 nach Dachau und von dort ins berüchtigte KZ Mauthausen. Lina Haag wurde ebenfalls jahrelang in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern festgehalten und gepeinigt. Nach ihrer Freilassung schaffte sie es mit dem Mut der Verzweiflung zu Heinrich Himmler vorzudringen, dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, um dort für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen. Sie hatte Erfolg - doch wurde ihr Mann nach der Freilassung zur "Bewährung" an die Ostfront geschickt. Er kehrte erst 1948 aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager zurück. 

1947 wurde "Eine Hand voll Staub" als eines der ersten Dokumente des Widerstandes veröffentlicht.

Die letzte Auflage ist aus dem Jahre 2004. Die Generation der Zeitzeugen stirbt und die Erinnerungskultur wird sich verändern. Gerade deshalb empfehle ich jungen Menschen dieses Buch zu lesen. Lina Haags Leben fasziniert, berührt und fesselt zu gleich. Es wäre ein Verlust dieses Buch nicht zu lesen!



.  M  .

Mittwoch, 1. Juli 2020

Medizin der Schwaben - Eau de Vie

der liebe Gott 
hat nicht gewollt
dass edles Obst
verderben sollt
drum hat er uns
um gut zu leben
den Schnaps als
Medizin
gegeben


Und genau deshalb lassen wir, wie viele Generationen im Schwabenland zuvor, das edle Obst nicht verderben. Vater und Onkel die wir hätten fragen können sind verstorben, so mussten wir uns selbst mit der Materie beschäftigen und experimentieren. Was aus den edlen Äpfeln wurde, kann sich durchaus sehen bzw. trinken lassen. 



eine große Apfelernte kündigt sich an ... 


Ein alter Stuttgarter Schwob nannte die Hochprozentigen "eingefangener Sonnenschein", eine doch sehr positive Umschreibung des eher negativen besetzten Wortes 'Schnaps'. Schnaps wird eher mit Alkoholiker anstatt mit Genuss in Verbindung gebracht. Der Franzose nennt den eingefangenen Sonnenschein 'Eau de Vie', wörtlich übersetzt: Lebenswasser. Rein sprachlich hört sich auch das 'Feuerwasser' aus der Wildwestliteratur weitaus besser an als das ordinäre Wort 'Schnaps'. 


.  M  . 



Service des Prisonniers de Guerre - Kriegsgefangenenpost

Vor 6 Jahren machte ich mich auf die Suche nach den Vorfahren eines Freundes. Am Ende der Recherche entstand eine interessante und sehr weit zurückreichende Familiengeschichte. Zwischen Gebetbuch und Familienfotos, die er mir für die Familiengeschichte zur Verfügung gestellt hat, war auch der Totenzettel seines Großvaters Hermann: “gestorben anfangs August 1944 im Lazarett in Russland" - er wurde nur 31 Jahre alt, hinterließ Eltern, eine junge Ehefrau und zwei kleine Kinder. Wo er bestattet wurde war nicht bekannt.

Das Schicksal von Opa Hermann ließ mich nicht los  - gestorben im Lazarett in Russland - durfte so nicht stehen bleiben. Die Onlinesuche beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge war erfolglos und das Auskunftsbüro in Moskau existierte nicht mehr.
Ich stellte einen Suchantrag beim Deutschen Roten Kreuz in München. Wo sonst eine Briefmarke klebt, war der große Briefumschlag mit der Antwort gestempelt:

SERVICE DES PRISONNIERS DE GUERRE - KRIEGSGEFANGENENPOST GEBÜHRENFREI 

Der Brief enthielt Karteikarten aus dem Frontaufnahmelager und aus dem Lazarett. Die Kriegsgefangenenakte besteht aus einem Fragebogen des russischen Innenministeriums über die persönlichen Daten, über die Familie, die soziale Herkunft,Besitzstand der Eltern, Besitzstand des Kriegsgefangenen, schulische Bildung, berufliche Kenntnisse, Militärausbildung, Dienstgrad, Dienststelle, Fremdsprachenkenntnisse, Verwandtschaft in der UdSSR, Gerichtsverfolgung, Auszeichnungen, Datum und Ort der Gefangennahme. 
Der Obergefreite Hermann S. kam am 6. Oktober 1943 bei Newel (Gebiet Pskow) in russische Gefangenschaft. Am 27. Oktober 1943 hat er im Frontaufnahmelager Nr. 41 den Fragebogen unterschrieben, am 5. Dezember 1943 kam er aus Ostaschkow in das Lager nach Tscherepowez.
Die Akte enthält außerdem einen Totenschein vom 3. August 1944 mit der Todesursache "Dystrophie 3. Grades" und einen Bestattungsschein des städtischen Friedhofes Tscherepowez vom 5. August 1944, im Gebiet Wologda, 500 km nördlich von Moskau.



Städtischer Friedhof Tscherepowez
Gedenkplatz für die dort ruhenden Kriegsgefangenen

Auf dem städtischen Friedhof im Südwesten der Stadt, wurden die Kriegsgefangenen, die im Lager von Tscherepowez verstarben, beigesetzt. In der Nachkriegszeit wurde die Parzelle der Kriegsgefangenen durch Beisetzung von Ziviltoten vollständig überbettet. Auf dem Friedhof ruhen: 2.830 Deutsche, 26 Spanier, 109 Finnen, 7 Moldauer, 8 Italiener, 9 Litauer, 44 Polen, 76 Ukrainer, 152 Österreicher, 43 Letten, 13 Franzosen, 16 Jugoslawen, 434 Ungarn, 400 Rumänen, 23 Tschechen, 9 Japaner, je 1 Russe, Holländer, Este, Amerikaner, Luxemburger, Schweizer und Belgier. Insgesamt 4.206 Kriegsgefangene. - Freund und Feind im Tod vereint.
Im Jahr 2007 hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. einen Gedenkplatz für alle dort ruhenden Kriegsgefangenen gebaut.

Tod durch verhungern wurde mit Dystrophie 3. Grades umschrieben. Der Lagerspiegel vom Lager Tscherepowez beschreibt die damaligen Verhältnisse: Unterkunft in Baracken, schlechte und vollkommen unzureichende Verpflegung, kaum Medikamente und Verbandszeug. Der Arbeitseinsatz ging über 10 Stunden täglich in der Holzverarbeitung, beim Torfstich, bei Erdarbeiten, in der Metallzeche, in der Kolchose und im Pferdelazarett.
90 % der Patienten starben an Fleckfieber, Ruhr, Typhus, Tbc, Dystrophie, Ödemen, Erfrierungen und Unfällen.

Die Ungewissheit über Hermanns Schicksal und seine letzte Ruhestätte ist nach 76 Jahren beendet. 


.  M  .